G75
Bürogebäude Gereonswall, Köln, 2002


Wären nicht die Spitzen des Kölner Doms über dem First des Bürogebäudes am Gereonswall 75 zu sehen, gäbe es keinerlei Rückschlüsse auf den Standort. Genauso gut könnte das kompakte klar strukturierte Bauwerk in den hoch verdichteten Innenstädten von Tokio, Seoul oder Sao Paulo stehen. Seine Internationalität entlehnt G 75 der ästhetischen Reduziertheit seiner Materialität. Die Fügung von Sichtbeton, Stahl und Glas zu einem in sich geschlossenen kompromisslosen Ganzen verleiht ihm seine Zeit- und Ortlosigkeit.

G 75 ist ein architektonischer Solitär, der dennoch fest im Stadtraum verankert ist. Er ist vielmehr ein Zeichen einer neu entstandenen Urbanität, die ihre Qualitäten nicht nur in der neuen Zeichnung des Ortes findet, sondern auch in dessen Negierung, der Leere und der Offenheit. Die beginnt mit der ersten Wahrnehmung des Gebäudes, wenn man von der stark frequentierten Kyotostraße, im Angesicht der mittelalterlichen Stadtmauer, rechts über einen kleinen unwirtlichen Platz blickt. Die schmale Fassade in ihrer strengen Dualität aus Glas und Beton distanziert sich gleichermaßen vom Nachbargebäude und eröffnet sich jedem Passanten über die Betonung der gläsernen Ecke. Zudem springt dort der gläserne Kubus über zwei Geschosse unter der darüber auskragenden Betonwand zurück. Eine Eingangssituation entschiedener Zurückhaltung und subtiler Zeichnung. Keine massive Stütze fängt die oberen Geschosse ab, nur schwarze filigrane Stahlrahmen kartieren die Glasfläche in Felder. Archetypisch im Sinne der künstlerischen Moderne eines Piet Mondrian durchzieht Johannes Schilling mit präzis gesetzten Linien die Fläche wie auch den dahinter liegenden Raum. Akzente der Fläche – z.B. das Lichtband in der Brüstung des 1. OG – verleihen der Architektur Tiefe und Prägnanz. Diese Offenheit, oder gar die Leere der Ecke, sprechen stellvertretend für das gesamte Gebäude.

Wie in den grauen Beton eingelassene Glaskörper wird das Volumen auf allen Geschossebenen in seiner dreidimensionalen Orthographie durchleuchtet. Johannes Schilling beschreibt durch diese Setzung künstlicher und natürlicher Belichtung im Inneren zusätzliche Akzente, die die Lesbarkeit der Architektur noch um ein Vielfaches steigert. Es entsteht eine variantenreiche Raumkomposition um die vom Eingang an diagonal aufsteigenden offenen Deckenfeldern. Durch diese Lufträume atmet das Gebäude. Alles ist einsehbar, von außen wie von innen, keine Türen und keine Trennwände – überall durchflutet Tageslicht, das in seiner Längsrichtung vollständig nach Norden orientierte Gebäude. Die Ansicht der Nordfassade wird bestimmt durch drei, wie verschiebbare Sequenzen gesetzte identisch große Betonflächen. Als Interpunktion der Architektur gliedern und setzen sie Akzente , vergleichbar mit der unterschiedlichen Betonung von Wörtern in einem Text, die die Bedeutung komplett verlagern kann.

Bei genauerem Hinsehen besteht die Komposition des Bauwerks aus nur fünf primären Materialien: Beton, Glas, Stahl, Eichenholz und Licht. Je nach Lesart stellt sich eine zweidimensionale Variation der Oberfläche ein, oder ein dreidimensionales Spiel mit der Tiefe und dessen Inhalt. Die von Johannes Schilling entwickelte tektonische Syntax der Architektur hat direkten Einfluss auf die interpretatorische Semantik des Bauwerks. Und wie über alle Nutzungen erhaben ruht der gesetzte Baukörper in sich selbst. Gemäß einem japanischen Haiku Gedicht bemisst sich ein Ausdruck in der Komprimierung eines Augenblicks, oder wie Roland Barthes es fasste:
„Die Kürze des Haiku ist nicht formaler Natur; der Haiku ist kein reicher Gedanke, der auf eine kurze Form gebracht wäre, sondern ein kurzes Ereignis, das in einem Zuge seine richtige Form findet.“
Aus Das Reich der Zeichen.